Falsche Versprechungen an Russland haben eine lange Tradition
Ende letzten Jahres veröffentlichte das unermüdlichen National Security Archive der George Washington University Dokumente, die zeigen, dass die westlichen Regierungen immer wieder den zu naiven Michail Gorbatschow bei den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung mit falschen Versprechungen über eine Nichterweiterung der NATO hereingelegt haben (“Keinen Inch weiter nach Osten”: Was den Russen zur Wiedervereinigung über die Nato versprochen wurde).
Vor wenigen Tagen folgte nun die Veröffentlichung neuer Dokumente aus der Zeit der Präsidentschaft von Boris Jelzin. Diese belegen, dass die USA Russland wiederholt versicherten, die zukünftige Sicherheitsstruktur in Europa würde auch Russland einschließen. Die Dokumente offenbaren prophetische Mahnungen Jelzins und zeigen, dass russische Kritik an einer NATO-Osterweiterung keine aktuellen Erscheinungen sind, sondern den gesamten Prozess seit Anbeginn der Verhandlung über die deutsche Wiedervereinigung begleitet haben.
Die russische Angst
Boris Jelzin, neuer Präsident Russlands, hatte selber im August 1993 zuerst Diskussionen über eine mögliche NATO-Erweiterung angefeuert, als er in Warschau öffentlich das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker würdigte. Sofort hiernach wurde jedoch in Russland diese Position wieder überdacht.
Partnerschaft für den Frieden – eine “brillante Idee”
Anfang September 1993 hatte das US-State Department eine Planung für die Erweiterung der NATO erstellt. Diese sollte sehr schnell mit Mittel- und Osteuropa sowie den baltischen Staaten beginnen, aber auch im Jahr 2005 schließlich die Ukraine, Weißrussland und Russland beinhalten.
Christopher betonte hierbei, “es wird keine Bemühung geben, irgendjemanden auszuschließen oder jemanden zu bevorzugen.” Jelzin bat seinen Gesprächspartner aus den USA um Bestätigung, dass alle Länder Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion gleichermaßen behandelt werden würden und dass es eine Partnerschaft und keine Mitgliedschaft geben werde. Christopher bestätigte dies, bevor ein begeisterter Jelzin jubelte: “Das ist eine brillante Idee. Eine Geniestreich.” Dies würde alle Sorgen in seinem Land im Hinblick auf die NATO nehmen. Russland “würde keine Zweite-Klasse-Bürger” sein, sondern ein gleichwertige Partner.
“Nicht ob, sondern wann”
Im Januar 1994 legte Bill Clinton auf seiner Reise nach Moskau einen Zwischenstopp in Prag ein, um mit den politischen Spitzen der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und der Slowakei zu sprechen. Er argumentiert, dass die “Partnerschaft für den Frieden” ein “Weg sei, der zur NATO-Mitgliedschaft führe” und sie nicht “eine andere Linie ziehe, die Europa einige hundert Meilen im Osten teile”.
Gegenüber dem tschechoslowakischen Präsidenten Vaclav Havel gestand Clinton, dass es unter den aktuellen NATO-Mitgliedsstaaten keine Einigung darüber gebe, formale Sicherheitsgarantieren auszuweiten, weil nicht klar sei, welche Länder sich heran beteiligen können und weil “die Reaktion in Russland das Gegenteil dessen sein könnte, die wir wollen”. Havel antwortete laut Dokument: “Aber im Hinblick auf die Empfindlichkeit der Bevölkerung hier (in der Tschechoslowakei), müsse er (Havel) betonen, dass die ‘Partnerschaft für den Frieden’ der erste Schritt sei, der zu einem vollständigen NATO-Mitgliedschaft führe. Der US-Präsident drückte sein volles Einverständnis aus.”
Am Tag darauf übte Polens Präsident Lech Walesa Druck auf Clinton aus. Sie müssten diese historische Gelegenheit nutzen. Russland sei schwach und er schenke Russlands Bitten und Versicherungen keinen Glauben: “Russland hat viele Vereinbarungen unterschrieben, aber sein Wort nicht immer gehalten.” Walesa erklärte, er habe ein Papier mit Jelzins Unterschrift, dass Russland keinen Bedenken gegen eine NATO-Mitgliedschaft Polens habe. Dann habe aber Jelzin seine Meinung geändert. Polens Außenminister fügte hinzu, sie hätten Angst, die USA würden mit Russland einen Deal machen, um neue Einflusssphären zu etablieren. Havel hingegen äußerte seine Bedenken, dass es weder “möglich noch wünschenswert sei, Russland zu isolieren.”
Alle beteiligten Gesprächspartner einigten sich schließlich darauf, der “Partnerschaft für den Frieden” unter der Bedingung beizutreten, dass sie der erste Schritt zu einer vollständigen NATO-Mitgliedschaft sei. Clinton bestätigt dies. Anschließend äußerte sich Clinton auf der Pressekonferenz: “Jetzt ist die Frage nicht mehr länger, ob die NATO neue Mitgliedsländer aufnimmt, sondern wann und wie.”
Wenige Tage später trafen sich Clinton und Jelzin in Moskau. Clinton bekräftigte, die “Partnerschaft für den Frieden” sei jetzt “die zentrale Sache” (“the real thing now”). Die Sachlage war aber weit davon, so eindeutig zu sein, wie die Worte des US-Präsidenten.
Russland weigert sich: “Europa läuft Gefahr, in einen kalten Frieden zu stürzen” (Jelzin)
Im Verlauf des Jahres 1994 versuchten die USA wiederholt Russland davon zu überzeugen, dass die NATO-Erweiterung nicht “anti-russisch” sei. Bei Jelzins Besuch in Washington betonte Clinton “Inklusion, nicht Exklusion”. Aber im Herbst desselben Jahres erfuhren die Russen, dass Richard Holbrooke die Diskussion um eine NATO-Erweiterung beschleunigte und eine NATO-Studie in Auftrag gab, die das “Wie und Warum” neuer Mitgliedsländer untersuchen sollte.
Aber in Russland wuchsen die Zweifel an der Ehrlichkeit der US-amerikanischen Worte. In der russischen Duma fand eine parlamentarische Anhörung zu den “Russisch-US-amerikanischen-Beziehungen”. Die Zusammenfassung der Sitzung spricht Bände: “Die USA weichen in ihrer Politik zu den post-sowjetischen Staaten oft von ihrer erklärten Priorität der Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte ab und stellen offen ihre geopolitischen Ziele an oberste Stelle.”
Zu den Feierlichkeiten des 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkrieges reiste Clinton eigens nach Moskau. Beim gemeinsamen Gespräch der Präsidenten nimmt Jelzin kein Blatt vor den Mund: “Ich sehe nichts als Erniedrigung für Russland, wenn Sie weitermachen … Warum wollen Sie das tun? Wir brauchen eine neue Struktur für eine pan-europäische Sicherheit, keine alte! … Aber wenn ich einer Expansion der Grenzen der NATO nach Russland zustimme, würde ich die russischen Menschen betrügen.”
Clinton verwies auf die positiven Nebeneffekte für Russland. Wenn Jelzin mit der NATO-Osterweiterung einverstanden sei, würde Russland Gründungsmitglied bei der noch zu erschaffenden Nachfolge-Organisation des “Koordinationsausschusses für multilaterale Ausfuhrkontrollen”, Russland würde in die G7 aufgenommen und hätte eine Sonderbeziehung zur NATO, aber nur wenn es “durch die Tür geht, die wir hierfür aufmachen”.
Clinton betonte, dass die NATO-Erweiterung “stufenweise, stetig, wohlüberlegt” stattfinden würde und warnte: “Sie können sagen, wir sollen nicht den Prozess beschleunigen – ich habe Ihnen gesagt, dass wir das nicht tun -, aber Sie können uns auch nicht sagen, den Prozess zu verlangsamen oder wir müssen dann weiterhin ‘Nein’ sagen.” Clintons Versicherung an Jelzin: “Ich werde keine Veränderung unterstützen, die die Sicherheit Russlands gefährdet und Europa teilt.” Am Ende kamen beide Präsidenten überein, dass die NATO-Erweiterung erst nach den Präsidentschaftswahlen 1996 in beiden Ländern stattfinden solle.
Bei ihrem nächsten Treffen im Juni beglückwünschte Clinton Russland, dass sich das Land zur Mitgliedschaft in der “Partnerschaft für den Frieden” entschlossen habe. Jelzin brachte jedoch einen neuen Gedanken ins Spiel: “Es ist wichtig, dass die OSZE der grundlegende Mechanismus für die Entwicklung einer neuen Sicherheitsordnung in Europa sei. Die NATO ist natürlich auch ein Faktor, aber die NATO sollte sich in eine politische Organisation entwickeln.”
Primakows Sammlung
Wiederholt wird heutzutage die russische Kritik an der NATO-Osterweiterung als eine Eigenheit der aktuellen russischen Regierung dargestellt. Tatsächlich zeigen sich russische Bedenken während der gesamten 1990er Jahre. Freigegebene russische Dokumente geheimer Anhörungen in der Duma und interne Memos aus der Zeit zeigen im Detail russische Einwände gegen eine NATO-Erweiterung. Diese bedrohe Russlands Sicherheit, untergrabe die Idee einer Europäischen Sicherheitszone, die auch Russland beinhalte, und ziehe eine neue Grenze durch Europa.
Im Januar 1996 wurde Jewgeni Primakow neuer russischer Außenminister. Sofort bat er das Archiv des russischen Außenministeriums um alle Dokumente, die Versprechen westlichen Politiker zu einer Nicht-Erweiterung der NATO erwähnen. Nach der Lektüre erstellte er daraus eine Übersicht, die er wiederholt in Memos, Reden und Gesprächen nutzte. Sie beinhaltet Versprechen des damaligen US-Außenministers James Baker, des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, des damaligen britischen Premierministers John Major und des französischen Präsidenten François Mitterand. Überraschenderweise schrieb Primakow auch, Russland trage selber Mitschuld daran, dass sich Mittel- und Osteuropa dem Westen zuwenden würden.
Die USA üben sich in Geschichtsschreibung
Vielleicht war es Primakows Suche, die Beunruhigung in den USA auslöste. Auf jeden Fall berichtete der damalige Botschafter James Collins, dass sich ein höher gestellter Politiker im Kreml beschweren würde, die NATO-Erweiterung würde dem Geist des Vertrages über die Deutsche Wiedervereinigung widersprechen. Am 23. Februar 1996 versandte das US-Außenministerium daraufhin an alle europäischen Botschaften ein Memo von John Kornblum und John Herbst. Diese russische Behauptung wurde darin als “unbegründet” und “trügerisch” bezeichnet. Das Memo betonte, dass der Vertrag der Deutschen Wiedervereinigung sich nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezog, aber keine Auswirkungen auf neue NATO-Mitglieder hätte. Ganz in diesem Sinne beschrieb das Memo eine Äußerung des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher als “unilateral” und nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen.
Dem widersprechen jedoch Berichte des US-amerikanischen und des britischen Außenministerium aus dem Jahr 1990. Sie dokumentieren, dass sich Genscher wiederholt auf die DDR, Polen und Ungarn bezog, die vielleicht der NATO beizutreten wünschten. Neben dieser fehlerhaften Darstellung verzichtete das Memo bezeichnenderweise auch auf die Auseinandersetzung mit dem Herzstück der Sammlung von Primakow, mit den Versprechen westlicher Politiker, die NATO würde sich nicht ausweiten.
Das Memo diente vielen US-Botschaften in Europa als Hilfe, um zur höchst aktuellen Frage der NATO-Osterweiterung Stellung nehmen zu können.
Die Klarsicht von 1997
In seinem äußerst lesenswerten Artikel Osterweiterung: “Fehler von historischem Ausmaß” stellt Christoph Duwe die grundlegenden Fragen über die dargestellte historische Entwicklung, die bekanntermaßen bis heute angehalten hat: “Welche Strategie haben die Vertreter der NATO eigentlich mit dem Expansionskurs verfolgt? Glaubten die Befürworter der grenzenlosen Erweiterung, dass ein militärisch (und wirtschaftlich) weitgehend vereintes Europa – unter Ausschluss Russlands – eine Konzeption sei, die Frieden und Sicherheit in Europa befördert? Hat man die Warnungen vor den möglichen Folgen dieser Strategie einfach nur überhört? Oder wollte man sie vielleicht sogar überhören?”
Es wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik in der Zeit nach dem Kalten Krieg, die NATO bis zu den Grenzen Russlands auszuweiten. Diese Entscheidung lässt befürchten, dass nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland entfacht werden könnten. Sie könnte einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, wieder zu einer Atmosphäre wie im Kalten Krieges führen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken, die uns sehr missfallen wird.
George F. Kennan
Egon Bahr, Vordenker der deutschen Ostpolitik, warnte ebenfalls 1997 in der “Zeit” prophetisch:
Es gibt keine Stabilität in und für Europa ohne die Beteiligung Russlands. Entweder sind wir stabil und sicher mit Russland, oder wir müssen in überschaubarer Zeit Sicherheit vor Russland neu organisieren. … Weitere Runden von NATO-Osterweiterung bedeuten, dass wir mindestens für die nächsten zehn Jahre eine Gegnerschaft zu Russland aufbauen. … Ich halte das wirklich für einen riesigen Fehler.
Egon Bahr
Dies waren vor mehr als zwanzig Jahren weise Worte.
Die Prophezeiungen sind eingetreten
Jack Matlock, ehemaliger US-Botschafter in Moskau gab 2014 angesichts der Ukraine-Krise die eigenen Fehler zu bedenken:
Wir wussten, wenn man ein Instrument des Kalten Krieges – die NATO – in dem Moment vor bewegt, wo die Barrieren fallen, schafft man neue Barrieren in Europa. … Es war ein Fehler, die NATO in den Osten auszudehnen. … 2008 entschied die Nato, die Ukraine auf eine Spur zur Mitgliedschaft zu setzen. Ein in seinem Inneren tief gespaltenes Land, direkt vor Russlands Türe. Das alles waren sehr dumme Schachzüge des Westens. Heute haben wir die Reaktion darauf.::Jack Matlock (Andreas Westphalen )